Trotz Corona: Wir brauchen ein solidarisches Europa!

„Politiker*innen und Medien in Deutschland konzentrieren sich derzeit auf das Coronavirus SARS-CoV-2 (COVID-19). Doch auch an den europäischen Außengrenzen und insbesondere auf der griechischen Insel Lesbos ist die Lage für Geflüchtete prekär. In diesen Zeiten brauchen wir eine solidarische  europäische Lösung um Menschenleben zu retten, Menschenrechte zu achten und einzelne Staaten nicht zu überlasten“, meint Stephan Barthelme, Bundesvorsitzender der Katholischen Landjugendbewegung.

Deshalb fordert die Bundesversammlung der KLJB bereits 2019:

  • die Ausweitung des Schengener Besitzstandes auf alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union
  • einen solidarischen Neuanfang und eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik, bei der die Dublin-Regelungen abgeschafft und durch ein gemeinsames und einheitliches sowie faires und transparentes Asylverfahren mit festen Aufnahmequoten und einem solidarischen Ausgleich innerhalb der Europäischen Union ersetzt werden,
  • Geflüchteten eine sichere und legale Einreise in die EU (z.B. durch „Humanitäre Visa“ oder „Resettlement“-Programme) zu ermöglichen, ihnen einen fairen Zugang zum Asylsystem der Europäischen Union zu gewährleisten und die Praxis der illegalen Zurückweisung10 zu beenden, da auf diese Weise Geflüchtete kriminalisiert und in die Hände von Schlepperbanden getrieben werden und durch die Flucht in Lebensgefahr gebracht werden sowie
  • rechtliche und praktikable Möglichkeiten zu schaffen, damit Geflüchtete auch in den Herkunfts- und Transitländern Asylanträge für die EU stellen können.

Dialogpapier „In Zukunft nur gemeinsam! – Unsere Vision von einem geeinten Europa“

 

Erik Marquardt berichtet von Lesbos

Der Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Erik Marquardt, ist seit einigen Wochen als parlamentarischer Beobachter auf der griechischen Insel Lesbos und hat uns einige Fragen beantwortet:

Wie ist die Lage der Geflüchteten auf Lesbos und an der griechisch-türkischen Grenze?

Die Lage auf Lesbos ist derzeit absolut unzumutbar. Allein in Moria auf Lesbos werden knapp 20.000 Menschen in ein Lager für eigentlich nur 3.000 Personen gesteckt. Es ist absurd, wenn wir in ganz Europa Kontaktverbote erlassen, aber auf Lesbos 20.000 Menschen in ein Lager eingepfercht werden, in dem es nur einen Wasserhahn pro 1.300 Menschen gibt. Das Virus unterscheidet nicht nach Hautfarbe, Religion oder Geschlecht. Deswegen müssen wir jetzt zusammenstehen und gemeinsam gegen eine Verbreitung des Virus kämpfen. Die wichtigen Quarantäne- und Schutzmaßnahmen im Kampf gegen das Virus müssen überall durchgeführt werden, um eine ungebremste Verbreitung zu verhindern, auch in Flüchtlingslagern. Es ist auch wichtig, dass das Asylrecht in der Corona-Krise nicht einfach abgeschafft wird.
An der griechisch-türkischen Grenze wurden rechtsstaatliche Verfahren einfach ausgesetzt und es wurde auf Menschen geschossen. Griechenland hat dann das Recht auf Asyl außer Kraft gesetzt. Wir leben gerade in einer sehr schwierigen Zeit, in der viele versucht sein könnten, Grundrechte außer Kraft zu setzen und genau das gilt es jetzt zu verhindern. Sonst könnte es auch anderen Staaten wie Ungarn ergehen und die Bevölkerung wacht morgens auf und merkt plötzlich, dass sie in einem Land lebt, in der gerade das gewählte Parlament entmachtet wurde.

Wie verhält sich die Zivilgesellschaft auf Lesbos und hat sich in den letzten Monaten etwas am Verhalten verändert?

In den vergangenen Jahren haben viele Menschen auf Lesbos den Geflüchteten geholfen, obwohl sie von Europa allein gelassen wurden. Mit ihrer humanitären Leistung haben die Menschen auf Lesbos den Friedensnobelpreis mehr verdient als die EU in den letzten Wochen. Aber nachdem die Bewohner*innen auf Lesbos über vier Jahre im Stich gelassen wurden, sind bei vielen langsam auch die Grenzen der Solidarität erreicht.

Inwieweit werden Geflüchtete als Spielball der Politik genutzt?

Es gibt in der Europäischen Union leider Regierungschefs, die nicht an einer konstruktiven Lösung für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts interessiert sind. Wir können in der EU nicht einfach sagen, dass wir die Grenzen dicht machen und keine Geflüchteten mehr rein lassen. Wir sehen gerade jetzt, zu was für Problemen die Grenzschließungen führen.
Leider bauen Politiker*innen wie Sebastian Kurz oder Viktor Orbán ihre politische Karriere teilweise darauf auf, solche Versprechungen zu geben und verhindern später aktiv konstruktive gesamteuropäische Lösungen. Es ist schlimm, wenn Politiker*innen die Würde und die Rechte von Menschen auf der Flucht in Frage stellen, um damit politische Kampagnen zu machen.

Weshalb sind Rechtsradikale nach Lesbos gereist und was tun sie dort?

An manchen Tagen kamen mehr Rechtsradikale als Geflüchtete auf Lesbos an. Man kann sich das von außen wahrscheinlich nur schwer vorstellen. Rechtsextreme in ganz Europa haben mobilisiert und eine pogromartige Stimmung verbreitet. Hier standen Nazis mit Eisenketten an den Straßenecken und haben patrouilliert, während die Polizei einfach danebenstand. Die Polizei kam auch dann nicht, wenn man sie rief. Faschisten eroberten sich auf Lesbos die Straßen und die Deutungshoheit. Der griechische Rechtsstaat hat da leider komplett versagt.

Was sollten die EU und ihre Mitgliedsländer tun, um die Situation zu verbessern?

Das große Ziel ist ein solidarisches gemeinsames europäisches Asylsystem, in dem die Würde und die Rechte von Menschen auf der Flucht in den Fokus gerückt werden. Aber jetzt ist es erstmal akut, die überfüllten Lager zu evakuieren und die Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie in Sicherheit zu bringen.

Was können Menschen in Deutschland unternehmen, um eine Veränderung zu bewirken?

Wir müssen öffentlichen Druck aufbauen, damit die Rechtstaatlichkeit wiederhergestellt wird und die griechischen Inseln substanziell evakuiert werden. Dafür habe ich die Kampagne #leavenoonebehind mit ins Leben gerufen, die von vielen Menschen in Deutschland und ganz Europa unterstützt wird.

Mehr Informationen zur Kampagne #leavenoonebehind sowie die Möglichkeit zur Petitionsunterzeichnung gibt es auf https://leavenoonebehind2020.org/
Weiterreichende Forderungen und Beweggründe der KLJB gibt es hier.

 

Überblick über die Migrations- und Geflüchtetenpolitik der EU

Seit 2015 werden vermehrt Geflüchtete in Griechenland aufgenommen. Nach dem Dublin-Abkommen können Geflüchtete nur in dem Land der Europäischen Union Asyl beantragen, in dem sie das erste Mal europäischen Boden betreten haben. Dies bedeutet eine besondere Belastung für Länder an den europäischen Außengrenzen. Die Insel Lesbos liegt nur wenige Kilometer vor der türkischen Küste und bietet so einen kurzen, jedoch noch immer nicht ungefährlichen Weg zu einem europäischen Mitgliedsstaat. Besonders frequentiert ist diese Route seit die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei abgeriegelt wurde. Das EU-Türkei-Abkommen aus 2016 sollte gegen Ausgleichszahlungen dafür sorgen, dass Geflüchtete in der Türkei aufgenommen werden und nicht mehr den Weg in die EU suchen. Derzeit findet ein Machtkampf zwischen der EU und der Türkei statt. Spielball sind hier Geflüchtete, die nicht mehr an der Ausreise in der Türkei gehindert werden und nach unterschiedlichen Medienberichten dabei unterstützt werden. Eine realistische Einschätzung der Situation in den Grenzregionen ist kaum möglich, da Journalisten von beiden Seiten der Zugang verwehrt wird und die jeweiligen Staaten ihre Berichterstattung für die eigene Position nutzen. Nach EU-Recht hat jeder Mensch das Recht auf ein Asylverfahren (Verbot von Kollektivausweisung) unabhängig davon, ob dieses positiv oder negativ ausfällt. Anfang des Jahres revidierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR – Institution des Europarats) sein Urteil aus 2017 und beurteilt sogenannte „Pushbacks“ (staatliche Maßnahme zur gesammelten Ausweisung von Geflüchteten und Migrant*innen) als rechtmäßig.

Die griechische Situation

Griechenland steht aktuell vor einer Vielzahl von Problemen. Der griechische Staat und die Volkswirtschaft erholen sich noch immer von einer lang anhaltenden Finanzkrise und deren Folgen. Entscheidend ist der daraus resultierende Sparkurs der griechischen Regierung, welcher besonders Kürzungen im Sozial- und Gesundheitswesen mit sich brachte. Dieser Kurs wurde durch die Europäische Zentralbank und andere europäische Länder stark beeinflusst. Gleichzeitig nahm die Kaufkraft der Bevölkerung drastisch ab. Auch auf Lesbos nimmt der Frust bei einigen Anwohner*innen nach sehr langer Geduld und Solidarität zu. Tourismus bleibt aus, alltägliche Produkte werden teurer, Verdienstmöglichkeiten werden knapper und Unterstützung, insbesondere finanzielle Entschädigungen für die Bewohner der Insel bleibt aus. Gleichzeitig steigen die Belastungen weiterhin. Durch Einsparungen und ein überlastetes System können die Asylanträge nicht schnell bearbeitet werden und die Lager auf der Insel Lesbos sind völlig überfüllt.  Auch bei diesen schwierigen Voraussetzungen ist das Handeln der griechischen Regierung in Bezug auf ihre Flüchtlingspolitik sehr kritisch zu sehen, da Rechte der Asylsuchenden beschnitten werden und die Bedingungen in Moria nicht zu rechtfertigen sind.

 

Weiterführende Informationen

Hier findet ihr einige Podcasts, Artikel und Reportagen um euch weiter zum Thema zu informieren.

Entwicklungsminister Müller prangert die Situation im Flüchtlingslager Moria an:  https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-gerd-mueller-fluechtlingslager-lesbos-100.html

EU-Innenkommissarin Ylva Johannson im Interview mit der Süddeutschen zur griechischen Asylpolitik und der Notwendigkeit einer europäischen Lösung: https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-griechenland-eu-kommission-johansson-1.4841682

Statement des Verbands Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (VENRO) zum Flüchtlingsschutz und humanitären Völkerrecht: https://venro.org/presse/detail/fluechtlingsschutz-und-humanitaeres-voelkerrecht-duerfen-nicht-ausgesetzt-werden

Interviews und Hintergrundwissen zur aktuellen Flüchtlingssituation gibt es in den Folgen 176, 177, 179 und 180 des Podcasts „Lager der Nation“ von Philip Banse und Ulf Buermeyer. https://www.kuechenstud.io/lagedernation/

Nico Schmolke vom Y-Kollektiv versucht in seiner Reportage herauszufinden, woher der Frust der Bewohner*innen der Insel Lesbos kommt. Dabei trifft er auf Bewohner*innen, Geflüchtete, Politiker*innen und gibt einen Einblick in die Arbeit der Journalisten vor Ort: https://www.youtube.com/watch?v=JkGdA-aDloQ

Die Deutsche Welle zeigt in einem kurzen Beitrag die Grundproblematik auf der Insel Lesbos: https://www.youtube.com/watch?v=3K34lnjs4XU

Artikel zur aktuellen Lage und deren Hintergrundinformationen im Handelsblatt und der Zeit: https://www.handelsblatt.com/politik/international/fluechtlingsinsel-lesbos-staerker-als-so-manche-grosse-eu-nation/13308048.html

https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/lesbos-fluechtlingslager-moria-griechenland-gefluechtete

Artikel der Süddeutschen und des Deutschlandfunks zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (GMR) zu sogenannten „Pushbacks“ an EU-Außengrenzen

https://www.sueddeutsche.de/politik/egmr-spanien-marokko-fluechtlinge-1.4796313

https://www.deutschlandfunk.de/push-backs-grundsatzurteil-erlaubt-direkte-abschiebung-nach.795.de.html?dram:article_id=470218

Einschätzung von Pro Asyl zum Urteil des EGMR: https://www.proasyl.de/news/paukenschlag-aus-strassburg-egmr-macht-rueckzieher-beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze/